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Attacke! Oder: der Weihnachtsausritt

Mein Vater war ein Scheidungskind. Und er hatte ein Kindheitstrauma! Während seine 10 und 12 Jahre älteren Brüder bei meinem Opa,einem Rittmeister,das Reiten erlernten,blieb ihm das als Nachkömmling verwehrt. Er wuchs allein bei seiner Mutter auf. Als er etwas älter war, mußte er monatlich mit dem Fahrrad in das über 30 km entfernte Dorf zu seinem Vater fahren,um das Unterhaltsgeld abzuholen. 

Bei einem dieser Treffen hat mein Opa meinen Vater auf ein Pferd gesetzt,um mit ihm auszureiten.Mein Opa war dabei nicht zimperlich und schlug ein flottes Tempo an. Mangels Reiterfahrung schoss mein Vater mit seinem Pferd an meinem Opa vorbei und rief : „Vati,wo ist denn bei dem Pferd die Bremse?“ 

Diese Geschichte wurde dann bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten zum Besten gegeben. Und dafür hat sich mein Vater zeitlebens geschämt.

Das brachte mich auf die Idee,meinem Vater zum 70.Geburtstag einen Kurzurlaub in Stangerode zu schenken. 

Geplant war,ihn auf einem meiner Pferde spazieren zu führen. Das habe ich dann auch getan. Das war aber nicht das,was ein „junger aufstrebender “ Reiter sich unter einem Ausritt vorstellte. Mein Vater wollte selbständig reiten!

In der kommenden Nacht habe ich kaum geschlafen. Meine Pferde,ein Shagya Araber und ein Traber von der Rennbahn,waren blütig und im besten Alter. Dagegen konnte mein Vater nur mit einer Reitkarriere in früher Kindheit auf einem durchgehenden Pferd aufwarten… 
Aber ich konnte als Tochter auch nicht NEIN sagen. 

Am nächsten Tag wurden die Pferde gesattelt. Es war wirklich faszinierend zu sehen,wie die Pferde sich verhalten,wenn ein Kind oder ein blutiger Anfänger auf ihnen sitzt: Das weckt wohl ihren Beschützerinstinkt. Dann ruckeln sie sogar einen aus der Balance geratenen Reiter wieder zurecht . 

Mit den braven Pferden wurde ein wirklich spektakulärer Ausritt ! Mitten im Wald kreuzte ein kapitaler Hirsch unseren Weg. Ich kann mich nicht erinnern,jemals wieder einem so großen und schönen Tier begegnet zu sein! Jedenfalls nie wieder auf eine so kurze Entfernung! Die Pferde scheuten nicht und meisterten auch die kommenden Schwierigkeiten: 
Für meinen Vater war es sehr beeindruckend, daß wir gebückt angeschmiegt an unsere Pferde unter einem schräg über dem Weg liegenden Baum hindurch ritten. Auch den kleinen Hüpfer ,den die Pferde über ein breiteres Rinnsal gemacht haben, hat er noch lange Zeit erwähnt… 

Bei so viel Begeisterung habe ich ihm im Folgejahr zum Geburtstag wieder einen Kurzurlaub mit den Pferden geschenkt. Diesmal waren wir in Mehrin. Ich steigerte die Anforderungen, und wir ritten einen etwas steileren Berg hinauf,wobei die Pferde sich das letzte Stück mit ein paar Galoppsprüngen hoch halfen. Und es gab die ersten kurzen Trabpassagen. Das unsanfte Einsitzen meines Vaters beim Leichttraben war 
leider nicht so pferdefreundlich… 
Das war dann auch der Grund,weshalb ich ihm im nächsten Jahr zum Geburtstag 10 Reitstunden schenkte,die er auch tapfer absolvierte. Am Ende bescheinigte ihm die Reitlehrerin,daß er ein Pferd im Schritt durch einen Parcours reiten kann, und daß er im Trab und im Galopp an der Longe einigermaßen sattelfest ist … 

Es kam das Weihnachtsfest. 
Und es lag auch etwas Schnee. 

Bei uns ist es inzwischen schon fast eine Tradition,daß wir am ersten Weihnachtsfeiertag mit unserer Nachbarin,einer Rollstuhlfahrerin, einen Spaziergang durch den Winterwald machen. Und natürlich sitzt sie dabei auf einem meiner Pferde , und ich führe sie. In diesem Jahr wollte auch mein Vater dabei sein. Er bekam meinen Araber und ritt hinter uns her. 

Aber die zwei waren sich diesmal gar nicht einig. Mein Vater ritt mit langen“ Fahrleinen“. Mit unpräzisen Hilfen wollte er ,als inzwischen „gestandener Reiter „dem Pferd sagen ,wo es lang geht . Dabei hat er meinen Salu manchmal empfindlich im Maul gezerrt. Das hat dem Pferd gar nicht gefallen. Auf einem Waldweg setzte es sich in Bewegung und schoss in einem Affenzahn an uns vorbei. Salu stoppte erst vor 
der nächsten Wegkreuzung, die aber hinter einer Kurve lag, so daß wir sie nicht einsehen konnten. 

Mir blieb fast das Herz stehen! 

Aber schon einen Augenblick später kam uns ein strahlender Reiter entgegen. Voller Stolz sagte er: 
„Das wollte ich noch einmal in meinem Leben machen: So richtig Attacke reiten! Und ich habe sogar die Bremse gefunden !“ 

Danach ist mein Vater nie wieder auf ein Pferd gestiegen,aber für mich sind es die schönsten Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit….